100 Philosophie und Psychologie
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Für Bildungseinrichtungen steht das Jahr 2020 für Schulschließungen und coronabedingte Zwangsdigitalisierung. Binnen weniger Wochen wurde notgedrungen auf Fernunterricht und Lernmanagementsysteme (LMS), Schulcloud und Videokonferenzen umgestellt. Zu denken geben sollte weniger die der Pandemie geschuldete Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht, sondern dessen beabsichtigte Verstetigung samt Forderung nach zunehmend automatisierten Beschulungssystemen. Werden Bildungseinrichtungen Teil der Daten-Ökonomie oder gelten weiterhin pädagogische Prämissen?
Smarte Technologien ermöglichen eine engmaschige Kontrolle und Steuerung der Schülerinnen und Schüler. Die entscheidende Frage zu IT in Schulen ist daher: Folgen wir der Logik der technischen Systeme oder besinnen wir uns auf den pädagogischen Auftrag der Erziehung zu Mündigkeit und Selbstverantwortung?
Der Fokus des öffentlichen Diskurses bei der Frage der Digitalisierung von Schule und Unterricht liegt auf Technik und Endgeräten. Mit Laptop und Tablet wird alles gut? Nein. Die entscheidende Frage bei der Konzeption einer sinnvollen technischen Infrastruktur für Schulen ist gerade keine technische, sondern eine pädagogische: Was soll denn genau gelernt werden, über Rechner und Netzwerke, am Rechner oder mit dem Rechner? Anschließend wird geklärt, wie eine alternative und praxistaugliche technische Infrastruktur für Schulen aussehen kann, um alle an Lehr- und Lernprozessen Beteiligten zu erreichen.
Seit 40 Jahren wird über den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen kontrovers diskutiert. Jede neue Gerätegeneration (PC, Laptop, heute Tablet) wird sofort für den Unterricht reklamiert. Der Nachweis über Nutzen und Mehrwert fehlt bis heute, dank Covid-19 werden jetzt aber mit Lernmanagementsystemen, Schulcloud und personalisierter Lernsoftware im Netz Fakten geschaffen– ohne weitere Diskussion.
Zu denken geben sollte weniger die der Pandemie geschuldete Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht, sondern dessen beabsichtigte Verstetigung samt Forderung nach zunehmend automatisierten Beschulungssystemen.
Digital- und Medientechnik sind heute typische Bestandteile des Unterrichts. Um Lern- und Verstehensprozesse zu ermöglichen, braucht es aber vor allem das Gespräch und den Diskurs. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen und nicht nur Repetition das Ziel ist. Medien und Medientechnik können Lernprozesse unterstützen, aber wir lernen im Miteinander.
Dieser Band betrachtet die beabsichtigte digitale Transformation von Schule und Unterricht aus sowohl pädagogischer wie philosophischer, aus bildungstheoretischer wie kognitionswissenschaftlicher Perspektive. Es werden praxisnah die beabsichtigte digitale Steuerung und Quantifizierung von Lernprozessen transparent gemacht und Alternativen für einen verantwortungsvollen und pädagogisch sinnvollen Einsatz von Medien- wie Digitaltechnik im Unterricht aufgezeigt. Das Ziel ist Emanzipation und Mündigkeit durch konstruktive und produktive Medienarbeit.
Wer sich mit dem Thema „Digitalisierung und Schule“ befasst, stellt fest, dass die Tragweite der intendierten Transformation von Bildungseinrichtungen zu möglichst automatisierten Lernfabriken durch Digitaltechnik nur von Wenigen realisiert wird. Selbst Begriffe wie „Lernen 4.0“ oder „Schule 4.0“ führen nicht dazu, die zugrunde liegenden Theorien und Automatisierungstechniken der „Industrie 4.0“-Projekte zu hinterfragen. Dann wäre sofort klar, dass diese an Technik-Geschichte und Software-Updates erinnernde Zählweise für Bildungseinrichtungen ebenso abwegig ist wie die Fiktion der Wissensproduktion.
Die „Digitalisierung“ scheint die aktuelle Heilslehre zu sein, die viele Menschen (ver-)blendet. Das „Vordringen der Digitaltechnik in alle Lebensbereiche“ sei alternativlos und unumkehrbar, heißt es allenthalben – als sei das Etablieren einer technischen Infrastruktur eine Naturgewalt und als stünden nicht ganz konkrete wirtschaftliche Interessen hinter diesen Netzwerkdiensten. Ausgeblendet wird, dass hinter Phrasen wie „die Digitalisierung verändert…“ oder „die Digitalisierung sorgt für… “ oder „die Digitalisierung führt zu ...“ ganz konkrete und benennbare Akteure bzw. Unternehmen und deren Geschäftsfelder stehen.
Wer als Pädagoge und Wissenschaftler das Thema „Digitalisierung und Unterricht“ kritisch reflektiert, stellt fest, dass nur Wenige die Tragweite der schon lange beabsichtigten Transformation von Bildungseinrichtungen zu IT-konformen, algorithmisch gesteuerten Lernfabriken realisieren. Die Corona-Pandemie ist nur der aktuelle Anlass, seit langem bekannte Digitalisierungsstrategien nur schneller umzusetzen. Dabei ist der Wechsel von ursprünglich pädagogischen Prämissen als Basis von Lehr- und Lernprozessen hin zum Paradigma der datengestützte Schulentwicklung und der empirischer Bildungsforschung wesentlich. Daten und Statistik dominieren das Individuum wie das Unterrichtsgeschehen. Es bedeutet sachlogisch, möglichst viele Daten der Schülerinnen und Schüler zu sammeln, auszuwerten und zur Grundlage von Entscheidungen über Lerninhalte und -prozessen zu machen. Lehren und Lernen wird wieder einmal als, heute digital, steuerbarer Prozess behauptet, wie schon beim programmierten Lernen in den 1950er Jahren. Was sind mögliche Alternativen?